Gesunde Führung beginnt bei echter Stärkenorientierung
Viele Führungskräfte haben gelernt, Defizite zu erkennen und zu korrigieren. Wer Schwächen benennt, gilt als aufmerksam und leistungsorientiert. Doch dieser Fokus greift zu kurz. Im Übrigen ist der Blick auf Schwächen und Normabweichungen archaisch begründet: Wir mussten auf alles Negative, Unnormale, Schwache achten – damit wir überlebten. Doch diese Zeiten sind vorbei – das genetische Programm aber noch lange nicht.
Stärkenorientierung meint nicht, Defizite zu ignorieren. Sie bedeutet, den Blick systematisch auf das zu richten, was Menschen gut können – und noch mehr: auf das, was ihnen leichtfällt. Wer starke Mitarbeitende haben möchte, schaut auf das, was leichtfällt und wo die Stärken liegen.
In meinem Verständnis ist eine Stärke das Produkt aus: Wissen × Können × Talent.
Und Talent? Das zeigt sich genau dort, wo Menschen sagen: „Das ist doch nichts Besonderes.“ Oder: „Das mache ich einfach so, ohne groß nachzudenken.“ Talente erkennt man nicht an dem, was Menschen besonders oft tun oder gern tun, sondern an dem, was ihnen leichtfällt.
Im Übrigen lassen sich die Faktoren Wissen und Können als Teile der Stärken in den meisten Fällen auch nachträglich noch erwerben. Talente sind aber angeboten bzw. frühkindlich erworben und lassen sich kaum noch entwickeln, wenn sie nicht schon angelegt sind.
Gesunde Führung – ein Blick in die Wissenschaft
Führung wirkt auf die Gesundheit – das belegen zahlreiche Studien. Die Positive Psychologie (Seligman, PERMA-Modell) zeigt: Menschen, die ihre Stärken im Alltag einbringen können, sind öfter im Flow, erleben mehr Sinn und sind insgesamt widerstandsfähiger.
Eine Untersuchung von Gallup zeigt: Mitarbeitende, die ihre Stärken regelmäßig einsetzen können, sind nicht nur engagierter, sondern auch deutlich seltener krank.
Auch neurologisch lässt sich das erklären: Wenn Menschen im Bereich ihrer Talente arbeiten, verbraucht ihr Gehirn weniger Energie. Es entstehen positive Emotionen, weil Dinge besser gelingen, Dopamin wird ausgeschüttet, das Stresserleben sinkt. Die Arbeit kostet weniger Kraft und gibt im besten Fall sogar Energie zurück. Die Ergebnisse können sich sehen lassen.
Die betriebliche Realität: Warum viele Talente unentdeckt bleiben
Obwohl das Wissen um die Kraft der Stärken längst verfügbar ist, bleibt die Realität oft defizitorientiert. In Jahresgesprächen geht es um Zielabweichungen, in Meetings um Fehler, in der Personalentwicklung um Lücken.
Dabei könnten gerade die unscheinbaren Talente die größten Potenziale freilegen. Doch viele Mitarbeitende können ihre Talente nicht benennen. Warum? Weil es eben leichtfällt, und weil niemand danach fragt.
Ein typisches Beispiel: Eine Führungskraft merkt, dass eine Mitarbeiterin immer wieder still und präzise komplexe Prozesse strukturieren kann. Statt zu fragen, was ihr daran leichtfällt, werden zusätzliche Aufgaben draufgelegt – bis zur Überlastung.